Spazier­engehen

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Persönlichkeitsentwicklung

Das Spazierengehen – Balsam für Körper, Seele und Geist

Mai 2020

In Zeiten von Corona entdecken viele eine Beschäftigung neu, die in der jüngsten Vergangenheit schon als komplett out galt: Spaziergänge in der freien Natur. Dabei gibt es eine Vielzahl historische Beispiele, die von den »heilsamen« Wirkungen des Gehens berichten. Und auch moderne wissenschaftliche Studien belegen die positiven Effekte des Gehens für Körper, Geist und Psyche. Grund genug, sich mit dem Spazierengehen etwas näher zu beschäftigen, auch in Bezug auf das Thema Weiterbildung.
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STICHWORTE

Bewusstsein
Körperliches Wohlbefinden
Haltungs- und Verhaltensänderungen

Gehen - Wirkung auf Körper und Psyche

"Alles Leben ist Bewegung. Bewegung ist Leben".

Dieser Satz wird Leonardo da Vinci zugeschrieben. Eine Erkenntnis, die von vielen Ärzten und Therapeuten geteilt wird. Dabei geht es nicht in erster Linie um das Thema Sport treiben, sondern vor allem um die prophylaktische Bedeutung des Gehens ohne Leistungscharakter. Viele Mediziner vertreten die Ansicht, dass ohne ein Mindestmaß an körperlicher Bewegung krankmachende Prozesse im Körper vorprogrammiert sind. Die Empfehlung lautet: Mindestens eine halbe Stunde Bewegung am Tag erhält die Gesundheit und bremst den biologischen Alterungsprozess. Wir Menschen sind, so die dahinterstehende Überzeugung, aufgrund unserer Veranlagung, ein für Bewegung geschaffenes Wesen. Muskeln, Knochenapparat, innere Organe oder auch der Stoffwechsel seien auf Bewegung ausgerichtet. Die Anatomie und Physiologie des Menschen unterstützten Bewegung in jeder Form.

Diese These wird von zahlreichen Studien gestützt und auch vom sogenannten »gesunden Menschenverstand« (common sense) bestätigt. Bewegung lässt unsere Wirbelsäule und die Gelenke mobil bleiben und baut die Knochendichte auf. Regelmäßiges Gehen stärkt die Atmung und fördert die Sauerstoffzufuhr für Gehirn, Muskeln, Gewebe und Gefäße sowie das gesamte Herz-Kreislauf-System.

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Gehen hellt unsere Stimmung auf!

Darüber hinaus hilft uns Bewegung den im Alltag angestauten Stress abzubauen, denn Stresssituationen wirken sich auch körperlich aus. Wir spannen die Muskeln an, die Durchblutung und Sauerstoffversorgung wird gesteigert und bestimmte Hormone, wie zum Beispiel Adrenalin oder Cortisol, werden vermehrt ausgeschüttet. Diese bereitgestellte Energie können wir aber im Büro oder Zuhause nicht verbrauchen, sondern nur durch körperliche Aktivität.

Das Gehen hat jedoch nicht nur einen positiven Effekt auf unser körperliches Wohlbefinden, sondern, so zeigen neuere Studien, auch einen deutlichen Einfluss auf unsere psychische Gesundheit. Eine Untersuchung des inzwischen sehr bekannten Robert Koch Instituts (RKI) belegt, dass Bewegung die Symptome psychischer Krankheiten wie z.b. Depressionen nachhaltig lindern kann und sogar das Risiko minimiert, an einer solchen psychischen Störung zu erkranken. Amerikanische Wissenschaftler bestätigen diesen Effekt, weisen aber darauf hin, dass zur Bewegung ein weiterer Faktor kommen muss, damit die Wirkung stabil bleibt: die Natur.

Das Gehen in natürlicher Umgebung, so die Forscher, hellt unsere Stimmung auf und steigert die Selbstachtung und das Selbstbewusstsein. Diese Wirkung hängt u.a. mit dem Tageslicht zusammen. Es hebt den Vitamin-D-Spiegel und hat eine förderliche Wirkung auf die Produktion von Serotonin, landläufig auch Glückshormon genannt.

Selbst die Psychotherapie nutzt die vitalisierende Wirkung des Gehens. Schon von Sigmund Freud wird berichtet, dass er seine Klienten nicht nur »auf die Couch legte« sondern mit ihnen auch Spaziergänge unternahm. Anders als in geschlossenen Räumen kann der Blick weit schweifen und Phasen des Schweigens wirken sich weniger beklemmend aus. Die Therapeutin Sandra Knümann plädiert daher für die sogenannte »Naturtherapie«. Sie hat die Beobachtung gemacht, dass die Psychotherapie unter freiem Himmel den Menschen etwas geben kann, das Gespräche im Raum allein nicht bieten: das unmittelbare Empfinden, mit der Welt verbunden zu sein und vom Leben getragen zu werden. Außerdem stärke es die Selbstwirksamkeit der Klienten, wenn sie den therapeutischen Ort auch außerhalb der Sitzungen aufsuchen könnten.

Gehen - Wirkung auf das Denken 

Wer sich bewegt, dem fällt das Denken leichter!

Der Philosoph und Pädagoge der Aufklärung, Jean-Jacques Rousseau, machte schon im 18. Jahrhundert die Beobachtung, dass er nur im Gehen denken konnte. „Sobald ich stehen bleibe, denke ich nicht mehr, mein Kopf arbeitet nur mit den Füßen gleichzeitig" schrieb er in seinen Bekenntnissen. Auf langen Spaziergängen fand Rousseau Ruhe und Glück in jenem Zustand, den er "rêverie" (Träumerei) nannte: dem freien Fluss der Gedanken, allein der Natur und den unmittelbaren Sinneswahrnehmungen folgend.

Auch die bekannten Philosophen SØren Kirkegaard und Friedrich Nietzsche sowie der be-rühmte Komponist Ludwig van Beethoven und der Schriftsteller Charles Dickens frönten der Lust am Gehen. Dabei betonten sie auch schon den Zusammenhang von Gehen und dem eigenen Wohlbefinden. So schrieb Kirkegaard: „Ich habe mir meine besten Gedanken er-gangen, und ich kenne keinen noch so schweren Kummer, den man nicht weggehen kann.“ Von ihm wird berichtet, dass er von seinen Spaziergängen derart beseelt zurückkehrte, dass er sich gleich mit Hut, Spazierstock und Regenschirm an den Schreibtisch setzte und losschrieb.

Es spricht also vieles dafür, dass sich uns beim Gehen neue Horizonte öffnen oder wie es der Philosoph Michel de Montaigne formulierte: „Mein Geist geht nicht voran, wenn ihn nicht meine Beine in Bewegung setzen.“

Die moderne Wissenschaft bestätigt die Beobachtungen dieser genialen Denker. So zeigen zahlreiche Studien die positiven Wirkungen des Gehens auf unseren Geist. Nach ihrer Erkenntnis fördern Spaziergänge die Gedächtnisleistung und führen zu einer verstärkten Konzentrationsfähigkeit. Die Sinne werden angeregt und die Wahrnehmung verbessert. Gehen erleichtert das „Begreifen“ eines Lernstoffes und verhindert Denkblockaden. Selbst die Problemlösefähigkeit und das kreative Denken wird durch Bewegung beflügelt. So be-legten amerikanische Forscher, dass der Ideenreichtum von Probanden nach einem zehn-minütigen Spaziergang um rund 80 Prozent stieg. Vor allem verbesserte sich ihre Fähigkeit divergent zu denken deutlich, also spielerisch neue Lösungen zu finden. Dabei scheint auch die Art des Gehens eine Rolle zu spielen: Laut einer Untersuchung aus Taiwan sollte die Bewegung frei und ungehindert sein. Wenn sie auf diese Weise schlendern durften, schnitten in dieser Studie sowohl jüngere Probanden als auch Teilnehmer im Alter von Mitte siebzig beim Kreativitätstest besser ab.

Grund genug, diese Erkenntnisse auch im Bildungsbereich zu nutzen.

"Mein Geist geht nicht voran, wenn ihn nicht meine Beine in Bewegung setzen."

Michel de Montaigne

»Bewegte« Lernräume schaffen

Die aktuellen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona Pandemie setzen auch vielen Bildungsunternehmen in Deutschland massiv zu, sind doch Präsenzveranstaltungen im Moment nicht erlaubt. Das ist zwar nachvollziehbar, hat aber auch negative Folgen. Fehlen damit doch in Zeiten großer Unsicherheit für Unternehmenslenker und Führungskräfte Räume der Reflexion, des Gedankenaustausches und des Lernens. Es gibt zwar im Moment eine Vielzahl an digitalen Angeboten, aber diese virtuellen Räume des Zusammenseins stoßen an ihre Grenzen, wenn es um Persönlichkeitsbildung im Sinne menschlicher Reifung geht.

Vom Neurobiologen und Lernforscher Gerald Hüther wissen wir, „dass nur dann etwas gelernt und nachhaltig im Gehirn verankert werden kann, wenn es auch unter die Haut geht, wenn der Lernstoff für den Lernenden emotional aufgeladen ist“. Dieses Berührt sein entsteht aber nach meinen Erfahrungen meist nur in der unmittelbaren Begegnung von Mensch zu Mensch, von Herz zu Herz. Wenn wir uns dem anderen zuwenden, ihn spüren, uns Zeit füreinander nehmen und Nähe zulassen. Dann bildet sich eine Atmosphäre des Vertrauens und der gegenseitigen Wertschätzung, die Voraussetzung dafür ist, dass sich Teilnehmer öffnen und sich mit ihren persönlichen Anliegen einbringen.

PRAKTISCHE ANWENDUNG

Seminare
Coaching

Und hier kommt das Spazierengehen ins Spiel. Das Verlassen des Seminarraums erleichtert es Teilnehmern, sich auf eine Selbsterkundung im Miteinander einzulassen. Gedankengänge in der freien Natur öffnen einen geschützten Zweit-Raum für vertrauliche, selbstreflektierende Zwiegespräche und ermöglichen somit ein tiefgründiges Sinnieren über sich und die eigenen Lebens- und Berufsherausforderungen.

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Gedankengang während eines Seminars

Ich praktiziere diese Methode des „Walk and talk“ seit vielen Jahren mit großem Erfolg. Viele Teilnehmer erinnern sich auch nach vielen Jahren noch an diese Einheiten und die dar-aus entstandenen Einsichten. Ein Zeichen, dass hier „Be-Eindruck-endes“ stattgefunden hat, dass Betroffenheit entstanden ist, dass Gefühle ins Fließen gekommen sind. Und dies ist der Humus für tiefgreifende Erkenntnisse über eigene (behindernde) Muster sowie Startpunkt für sinnvolle Haltungs- bzw. Verhaltensänderungen.

Wer sich bewegt, dem fällt das Denken leichter – diese philosophische Erkenntnis wird von meinen Seminarteilnehmern immer wieder bestätigt. Der Effekt des Gehens wird verstärkt durch eine offene Fragestellung, die oft sehr persönlich ist. Ohne die Ablenkung durch Handy oder andere Störungen tauchen die Gesprächspartner in ein Wechselspiel zwischen achtsamem Zuhören und personalem Mit-teilen ein. Phasen des schweigenden Gehens fördern die Selbstinspektion und lassen unbewusste Gedanken aufsteigen. Das Nicht-Bewerten der Gedanken des Partners erleichtert es, über persönliche Themen zu sprechen und sich dem anderen anzuvertrauen und öffnet neue Perspektiven.

„Dem Gehenden schiebt sich der Weg unter die Füße“. Dieser Satz des Schriftstellers Martin Walser macht deutlich, dass der Erkenntnis die Handlung zu folgen hat. Erst wenn wir den Mut haben, uns auf den Weg zu machen, den fälligen nächsten Schritt zu tun, wachsen wir wirklich.

Gehen als Sinnbild des Lebens

Damit sind wir bei einem abschließenden Aspekt des Themas Gehen. Gehen im übertragenen Sinne, als Metapher. Anselm Grün beschreibt in seinem Büchlein „Auf dem Wege“ die Erfahrung des Auf-dem-Weg-Seins und sieht darin ein Sinnbild des Lebens. Als Werdewesen sind wir zeitlebens auf dem Weg, machen Umwege, verlieren uns in Irrwegen und durchleben Durststrecken. Er kommt zur Erkenntnis, dass nur wer fährt, etwas er-fährt und nur wer wandert, ist bald be-wandert.

„Es geht also im Spazierengehen nicht bloß um eine Fortbewegung, nicht bloß um körperliche Ertüchtigung, um sinnvolle Freizeitbeschäftigung, sondern es werden beim Gehen die tiefsten Schichten des menschlichen Bewusstseins angesprochen. Der Mensch erfährt sich selbst als einen, der wesentlich auf dem Weg ist“, so Anselm Grün.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Freude beim Gehen in der Natur, allein oder zu zweit, mit oder ohne konkrete Fragestellung, zur Ertüchtigung oder zur Erbauung. Machen Sie an sich selbst die Erfahrung, dass unsere Gedanken in Fluss kommen, wenn wir uns draußen bewegen. Das achtsame und gelassene Erleben der Natur - z.b. das Gehen an einem Bach, das Beobachten des Wolkenspiels oder des Wogens eines Getreidefeldes - vermittelt uns darüber hinaus sehr plastisch, was der griechische Philosoph Heraklit in die Formel „panta rhei“ gekleidet hat: alles ist im Werden, in unaufhörlicher Bewegung.

Viel Freude beim Gehen!

Gerhard Herb

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Quellen:
  • Anselm Grün. Auf dem Weg. Vier-Türme-Verlag. Münsterschwarzach. 2002.
  • Martin Walser. Lektüre zwischen den Jahren. Suhrkamp Verlag KG (Oktober 1998)
  • https://psylex.de/psychologie-lexikon/gesundheit/natur.html
    https://www.zeit.de/zeit-wissen/2017/03/gehen-intelligenz-evolution-geist-spazierengehen-denken/komplettansicht
  • https://www.psychologie-heute.de/gesundheit/39060-ab-nach-draussen/volltext.html#page2
  • https://www.gesundheit.de/medizin/vorsorge/vorsorge-und-sport/einfach-loslegen-gehen-ist-gesund
  • https://www.forum-ernaehrung.at/artikel/detail/news/detail/News/wer-sich-bewegt-dem-faellt-das-denken-leichter/
  • https://www.psychologie-heute.de/gesundheit/40158-was-ist-naturtherapie.html#page
  • https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.psychologie-wie-gluecklich-das-macht.c89bb557-df7e-4bc7-99ff-c9d57b144cb6.html
  • https://www.welt.de/wissenschaft/article7450675/Spaziergaenge-sorgen-tatsaechlich-fuer-gute-Laune.html
  • https://www.zeit.de/sport/2012-03/laufen-joggen-spazieren-medikament-bewegung/komplettansicht
  • https://www.handwerk.com/archiv/das-bringt-spazierengehen-150-2-39091.html
  • https://www.gerald-huether.de/mediathek-page/populaerwissenschaftliche-beitraege/inhaltliche-uebersicht/lernen/

Weitere Artikel

„Wer fährt, wird erfahren. Wer wandert, ist bald bewandert.“

Anselm Grün